Fundy Bucht, das Wunder von Flut und Ebbe

Den letzten Vormittag in den USA verbringen wir gemütlich. Ein herrlicher Morgen, inklusive Yoga unterm Apfelbaum und Sicht auf die Grenzgewässer. Wir fahren Richtung Calais und queren die Grenze. Der Grenzer ist super freundlich, ja schon fast herzlich und wir fühlen uns in Kanada gleich wieder wohl. Der R1 entlang geht es weiter bis nach Springdale und der 114 entlang durch bewaldetes Gebiet und den Fundy Nationalpark. An der Küste bei Alma erkundigen wir uns nach Campingmöglichkeiten, innerhalb oder ausserhalb des Parkes, doch hier schaut man uns nur konsterniert an - Sie haben keine Reservation, am Labour Day Weekend? Tja, so konsultieren wir mal wieder I-Overlander und suchen erst ein kostenloses Flecklein am Dennis Beach auf. Nach einem Lunch haben wir aber bereits genug von den lästig stechenden Fliegen und Mücken und suchen weiter. In Upper New Horton werden wir fündig. Im "Shire Camping" werden wir von Don, dem Inhaber herzlichst begrüsst. Sein Motto lautet "Not everything in life has a price tag" und so stellt er Reisenden seinen Garten neben einem alten Friedhof als Übernachtungsplatz gratis zur Verfügung. Er freut sich natürlich über Spenden und noch mehr über ein paar nette Worte im Gästebuch. Gerne sitzt er mit Reisenden von nah und fern am Abend am Feuer, trinkt ein Glas Wein und freut sich über interessante Gesellschaft. Er ist alt, aber sein VW Bus im Garten vor seinem Haus auf der anderen Strassenseite spricht Bände. Nach netter Unterhaltung und kurzer Führung übers Grundstück (vom Plumpsklo über Wasserpumpe bis Hollywoodschaukel am gedeckten Feuerplatz sowie Gemüsegarten zur Selbstbedienung gibt es hier alles) spielen wir mit seinem Hund Sally Frisbee. Also eigentlich spielt sie mit uns, denn wenn ich geworfen habe, muss ich den Frisbee selber holen und sie wedelt, wenn ich ihn ihr wieder vor die Pfoten lege. Etwas später werfen wir einen Blick in den Gezeiten Kalender und fahren am frühen Abend zur Sichtung der Flut zu den Hopewell Rocks.

 

Um Flut und Ebbe bewundern zu können, ist das Ticket an 2 aufeinanderfolgenden Tagen gültig. Was diesen Platz aber so speziell macht, sind nicht die bizarren Felsen mit Vegetation obendrauf, die da aus der Flut ragen, sondern die erstaunlich gut zu beobachtende Flut/Ebbe Unterschiede von bis zu 14 Metern, weiter hinten in der Bucht (Hopewell Cape) können sie sogar Spitzenwerte von 17 Meter erreichen. Das ist Weltrekord. Zwischen zwei Schlickfeldern liegt das berühmte Sandsteinkliff der Hopewell Rocks, welches durch die starke Erosion immer wieder neue Felsen, sogenannte Flowerpots, freigibt und welche anschliessend vom Kliff abgetrennt vom Meer umspült werden. So werden bis zu 60cm des Kliffs pro Jahr abgetragen. Das Wasser hier ist so durchsetzt mit Sandstein und Lehm, dass es eine Schokoladenfarbe bekommt, daher wird der innerste Abschnitt der Bay of Fundy auch gerne Chocolate River genannt. Der Mond ist der Treiber der Gezeiten und bei Voll- und Leer Mond ist er der Erde näher als in der Zeit dazwischen. Somit entstehen dann die höchsten Flut/Ebbe Unterschiede. Dieser Effekt wird durch die trichterförmige Bucht noch verstärkt (weit und tief an einem Ende und seicht und eng am anderen). Somit wird der Wasserspiegel der Flut immer höher, je weiter das Wasser in die Bucht drängt. Auch die spezifische Länge der Bucht spielt hier eine wichtige Rolle, denn diese führt zu einer schwappenden Wellenbewegung wie in der Badewanne. Die Zeit welche das Wasser braucht die Bucht zu fluten und zu entleeren entspricht hier ziemlich genau dem Rhythmus der Gezeiten. Das wird Resonanz genannt und verstärkt den Trichter Effekt weiter. So schwemmen 160 Billionen Tonnen Wasser zweimal pro Tag in die Bucht und wieder raus. Dabei spielt nebst der Gravitation des Mondes auch die der Sonne eine Rolle, sie kumuliert sich quasi während Neu- und Vollmondphase (spring tides) dazwischen kommt es zum Gegeneffekt (neap tides) wenn Mond und Sonne in gegengesetzte Richtungen ziehen. Die Flut fliesst hier erst langsam herein, doch während der zweiten, näher an der Flut liegenden Hälfte der Zeit steigt die Flut immer stärker, mit bis zu 4 Meter pro Stunde. Daher kann man auch nur in den 3 Stunden vor und nach der Ebbe am Strand spazieren gehen. Wir sehen die Flowerpots an diesem Abend erst noch vom Wasser umspült, doch kurze Zeit später können wir beobachten, wie schnell der Wasserspiegel fällt und die Säulen der Felsen freigibt. Morgen schauen wir uns das Ganze dann bei Ebbe an.

 

Beim Lagerfeuer sind wir mit Kanadiern ins Gespräch gekommen und lernen so auch etwas über die Arcadier und ihre noch heute lebendige Sprache, ein Patois zwischen Französisch und Englisch, wobei im Satz selbst die Sprache gewechselt wird und man auch mal englische Verben französisch konjugiert und umgekehrt. Ein gemütlicher und interessanter Abend. Nach einer ruhigen Nacht können wir gemütlich frühstücken, denn die Ebbe ist erst für den späten Vormittag angekündigt. Die Gravitationskräfte des Mondes (und in kleinerem Masse die der Sonne) sowie die Rotation der Erde führen zu den Gezeiten, zweimal pro Tag Flut und zweimal pro Tag Ebbe. Ein stetiges auf und ab der Wassermassen rund um den Globus. Was uns jedoch überrascht ist, dass es Gezeitenkalender braucht, denn nicht nur die Höhe der Flut ändert von Tag zu Tag, sondern auch die Urzeit. Das kommt daher, dass sich die Erde in 24 Stunden einmal um sich selbst dreht, der Mond aber 27 Tage für eine Erdumlaufbahn benötigt. Beide reisen in die gleiche Richtung und so braucht es 24 Stunden und 50 Minuten damit ein bestimmter Punkt auf der Erde mit dem Mond mithalten kann. Zweimal pro Tag erreichen die Wassermassen die Küsten und ziehen sich wieder zurück und so verschiebt sich jeder Zyklus um ca. 6 Stunden und 13 Minuten und die Flut am Folgetag ist 50 Minuten später als am Vortag. Als wir zu den Flowerpots kommen ist das Meer weit draussen und wir spazieren der Küste entlang, quasi ohne Tauchschein auf dem Meeresboden. Es ist schwer vorstellbar, dass in wenigen Stunden mehr als 12 Meter Wasser über uns sein soll. Doch von der geballten Kraft der Wassermassen bekommen wir erst einen Eindruck, als wir uns am Rande der Schlammebene auf ein paar Felsen setzen und beobachten, wie sich die leeren Flussbetten wieder füllen und grosse Steine in Minutenschnelle in der Flut verschwinden. Erst als wir den Selbsttest machen wird uns klar, was das genau bedeutet: wir stellten uns mit den Füssen an die Wasserkante und schauten auf die Uhr. Nach 2 Minuten sind die Füsse im Schokoladenfluss verschwunden und wir stehen knöcheltief im Wasser, nach 8 Minuten ist das Wasser schon knietief und wären wir nicht ins Trockene spaziert, so hätten wir nach 15 Minuten wohl das Wasser bis zur Taille bzw. der Hüfte gehabt und nach 27 Minuten wäre es für mich ungemütlich geworden, Markus hätte noch ein paar Minuten länger Luft gehabt... So ist es nur verständlich, dass wir lieber vom Trockenen aus beobachten, wie die Felsformationen nasse Füsse bekommen.

 

Für den Höchststand der Flut fuhren wir zurück in den Fundy Nationalpark und machten einen schönen Spaziergang zur Point Wolfe Beach, wo wir darüber schmunzelten, dass die Treppe zum Strand im Wasser endete. Wir verbrachten einen schönen, sonnigen Abend an der Bucht, bevor es für eine weitere Nacht zu Don und den anderen Reisenden von nah und fern zurückging. Ein eindrückliches Erlebnis diese Gezeiten, welche wohl kaum anderswo auf der Welt so gut zu beobachten sind wie an der Bay of Fundy.