Niagara Fälle und der Staat NY

Nach einer schönen Pause bei Molly und ihrer Familie nehmen wir die Fahrt gegen Osten wieder auf und fahren bei leichter Bewölkung via Lansing, Flint und Port Huron zur kanadischen Grenze. Die Einreise ist problemlos und auch die Fahrt durch Ontario im Dreiseeneck Lake Huron, Lake Erie und Lake Ontario. Von den Seen sehen wir nicht viel, auch die Landschaft ist eher langweilig, zwischenzeitlich beginnt es wieder zu regnen und wir sind froh, als wir in unserem Motel im Vorort des Ortes Niagara Falls ankommen. Am nächsten Morgen bekommt Markus zum Geburtstag frisch gebrühten Kaffee ans Bett und sein Geschenk, den Anhänger mit dem versteinerten Megalodon Zahn, welcher er in Banff so bewundert hatte. Er lehnte schon im Vorfeld seines Geburtstages eine Buchung in einem schönen Hotel auf einem Weingut oder eine Reservation in einem guten Restaurant ab, dafür wählten wir gemeinsam ein schönes Cottage auf der Insel Nova Scotia aus, wo wir gegen Ende unser Nordamerikareise ein paar gemütliche Urlaubstage verbringen wollen.

 

Wir parkten Bobilchen beim Skylon Tower inmitten des Dorfes Niagara Falls. Für 10 USD kann man hier den ganzen Tag stehen und die Fälle ganz in der Nähe zu Fuss besuchen. Eintritt zur Besichtigung der Fälle zahlt man nicht, doch es werden allerlei Attraktionen geboten, welche man für teures Geld buchen könnte. Das ganze Dorf hat den Charakter eines Jahrmarktes mit allem nur erdenklichen Schund, vorne am Niagara Parkway ist es dafür etwas ruhiger und abgesehen von den Besuchermassen kann man den Blick in Ruhe schweifen lassen. Von der kanadischen Seite hat man einen sehr guten Blick auf die Bridal Veil und American Falls. Sehr schöne Fälle, die quasi in die Schlucht bzw. den Grenzfluss Niagara River fallen, unten grosse Steine und links und rechts das Grün des Niagara Falls State Parks (den gibt es sei 1885). Dahinter stört leider die Skyline der Hochhäuser des Dorfes Niagara Falls auf der amerikanischen Seite. Es gibt Boote, welche einem vor die Horseshoe Falls fahren und so beobachten wir Passagiere in den uniform blauen (USA) bzw. roten Plastikmäntelchen (Kanada) an Deck der jeweiligen Schiffe. Das Mäntelchen ist im nicht unerheblichen Preis für die Fahrt inbegriffen und die Passagiere erfreuen sich daran, sich von der gewaltigen Gisst nassspritzen zu lassen. Obwohl noch stark bewölkt, drückt die Sonne langsam durch und die halbrunden Fälle in Form eines Hufeisens zeigen sich von ihrer schönen Seite. Besucht man die Fälle von der amerikanischen Seite her, hat man verschiedene Aussichtspunkte, welche zu Fuss durch den State Park erreichbar sind, doch all diese Aussichtsterrassen liegen oberhalb der Fälle, die Panoramaansicht ergibt sich nur von der kanadischen Seite. Ein schöner Anblick, gewiss, aber kein Vergleich zu den Iguazu Fällen, welche weitaus beeindruckender sind und dank der naturbelassenen Umgebung auch bei weitem fotogener. Das Naturspektakel und die Menge Wasser, das sich bei den Niagara Fällen in die Tiefe stürzt ist dennoch beeindruckend. Nach der letzten Eiszeit entstanden die Grossen Seen. Der Niagara ist der 58km lange Ab- und Verbindungsfluss zwischen Lake Erie und Lake Ontario. Dieser Fluss durchschneidet mit einem Gefälle von 99 Metern das Niagara Escarpment und wäscht den weichen Sandstein unter den harten, aber porösen Kalksteinschichten solange aus, bis der Stein bricht. So verschob sich die ursprüngliche Abbruchkannte jährlich um ca. 1 Meter. Die Indianer und auch die ersten Europäer hatten ein anderes, viel imposanteres Naturschauspiel vor Augen als die heutigen Besucher. Der Bau mehrerer Kraftwerke verringerten die Wassermenge um bis zu 75% und die Wasserwerke pumpen diese Menge durch unterirdische Kanäle und Werke, so dass die Erosion der Abbruchkante derzeit fast zum Erliegen gekommen ist (1cm anstelle 1m pro Jahr). Der Horseshoe Fall ist 57 Meter hoch sowie 670 Meter breit und mit Blick auf eben diesen fahren wir über die Rainbow Bridge für eine erneut problemlose Einreise in die USA.

 

Nach rund 250km sind die Finger Lakes im Staate New York erreicht. Die Fahrt durch den Upstate NY wurde dank regelmässigen Wolkenbrüchen zu einer recht nassen Angelegenheit. Die Region der Finger Lakes hat bestimmt ihren Charme, doch bei Regen wirken weder die vermehrt auftretenden, historischen Ziegelsteinbauten oder schönen Kolonialhäuser noch die Weingüter in den lieblichen Hügeln über den Seen besonders reizvoll. Während einer Regenpause kann ich Markus dann aber zu einem Geburtstags Glacé einladen: 12 vorzügliche Sorten auf einem Probiertablett. Kleine Kugeln mit köstlichem, hausgemachten Eis aus besten, lokalen Zutaten sowie den Eiern der Enten, die wir im Garten des "Spotted Duck" bei der Ortschaft Dresden sehen. Auffallend sind hier die vielen Europäischen Städtenamen aus Deutschland, der Schweiz, Frankreich und England. Für eine nasskühle Nacht verziehen wir uns in den Finger Lake National Forest, nicht ohne vorher noch ein spezielles Schild fotografiert zu haben: Achtung Pferdekutschen. Wir sind hier in Amish Land unterwegs und sehen immer wieder Bauern in der typischen, wie aus der Zeit gefallenen Kleidung bei der Feldarbeit. Am nächsten Morgen scheint die Sonne und so fahren wir aus dem Wald heraus und über Landstrassen bis nach Ithaca. Ithaca ist ein kleiner aber sympathischer Ort am Südende des Cayuga Lake. Zusammen mit dem Seneca Lake gehört er zu den grössten der 11 von Süd nach Nord ausgerichteten, bis 100km langen Seen. Entstanden sind sie in der letzten Eiszeit, die fruchtbaren Böden der leicht hügeligen Landschaft eignet sich vor allem für Wein- und Obstanbau und so entstand hier das "Sonoma des Ostens" (Sonoma ist das bekannte Weinanbaugebiet in Kalifornien) und die Finger Lakes Weingüter sind heute auch über die Landesgrenzen hinaus bekannt .

 

In und um Ithaca (der Ortsname geht auf die Irokesen zurück, welche in dieser Gegend gelebt haben) gibt es unzählige Wasserfälle, einige davon liegen in State Parks und bieten auch Badestellen (kostenpflichtig) unterhalb der Fälle. Wir besuchten den optisch beeindruckenden Ithaca Fall und spazieren dann der Schlucht entlang bis zum Cornell Campus. Unterhalb der Ithaca Fälle laichen Störe und daher darf hier nicht gefischt werden, dafür stabilisieren speziell angepasste Bäume (American Sycamore) das Ufer und können Fluten problemlos überstehen. Auf dem Weg kommen wir an weiteren, kleineren Wasserfällen vorbei und bewundern die alten Gebäude der Universität sowie den schön angelegten, weitläufigen Campus. Fürs Mittagessen suchen wir uns ein Weingut am See mit angeschlossenem Restaurant und regionaler Küche (Thirsty Owl Wine Company). Das Essen ist gut, der Wein jedoch vermag uns nicht zu überzeugen. In der Gegend gibt es zwei Wein Trails (Cayuga Lake und Keuka Lake) und alle teilnehmenden Weingüter bieten Verkostungen an und sind für die Öffentlichkeit zugänglich. Die Knapp Winery ist offenbar auch in Europa bekannt, doch insgesamt gibt es hier über 100 Weingüter, allesamt recht jung. Der Riesling ist die wichtigste Weinsorte, aber es gibt auch uns unbekannte Sorten wie der Concord oder Niagara. Wir fahren an Ortschaften mit Namen wie Dresden, Geneva und Interlaken vorbei, doch der Anblick des Sees erinnert stark an den Neuenburgersee. Weinreben und sanfte Hügel prägen die Landschaft. Die Gegend ist aber nicht nur für seinen Wein, sondern auch für Cider, kleine Bierbrauereien und Käse bekannt und so wundert es nicht, dass hier findige Marketingleute auch den Cheese Trail und einen Beer Trail ins Leben gerufen haben. Überhaupt scheint es, dass hier Kulinarik grossgeschrieben wird. So wundern wir uns nicht, dass jeder Ort seinen Farmers Market hat, oder so genannte U-pick Farms und Farm-to-Table Restaurants eröffnen. Ob die Tatsache, dass diese Gegend Amish und Mennoniten Gebiet ist, einen Einfluss auf den Trend dieser Region zu mehr Nachhaltigkeit hat?

 

Im Verlaufe des späteren Nachmittages erreichen wir Utica und somit das Südende der Adirondack Berge im Norden des Bundestaates NY. Anders als in den Nationalparks im Westen, gibt es hier viel Privateigentum. Nur 1/6 des Gebietes ist seit 1892 als "forever wild" deklariert worden, der Rest untersteht dem Departement of Environmental Conservation des States NY. Trotz allem gilt es als grösstes Naturreservat der USA ausserhalb Alaskas. Siedler haben sich hier wegen den felsigen Böden und bitterkalten Winter kaum niedergelassen, aber einige reiche Bürger fanden es chic für ein paar Sommerwochen im Wald zu leben und nannten sich selbst Rusticators. So entstanden hier elegante Sommerhäuser im rustikalen Stil, alle mit Veranda und dem amerikanischen Ur-Gartenstuhl aus bemaltem Holz, dem Adirondack Chair. Wir hingegen nächtigen weder elegant noch rustikal, sondern suchen uns ein ungestörtes Plätzchen für die Nacht: offizielles dispersed camping im State Forest. Die Sonne wärmt bis etwa 19 Uhr, danach wird es kühl und um 20 Uhr geht die Sonne unter. Wir stellen fest, der Herbst steht vor der Tür.

 

Am nächsten Morgen scheint die Sonne und wir fahren bei angenehmen Sommertemperaturen durch das ausgedehnte Gebiet, Wald, Wald, Wald. Erst einige wenige Bäume beginnen sich herbstlich zu kleiden, wir sind wohl etwa 2-3 Wochen zu früh, um das Farbenspektakel des Indian Summer voll zu erleben. Das Naturphänomen "Fall Foliage" ist in derartiger Intensität nur in Neuengland zu beobachten, weil hier die Gebirgszüge, anders als beispielsweise in den Alpen, in Nord-Südrichtung verlaufen. Dadurch kann im Herbst polare Kaltluft ungehindert nach Süden vordringen. Gleichzeitig sorgt kräftige Sonneneinstrahlung im September noch für viel Wärme und extreme Tag/Nacht Temperaturunterschiede. Dies führt zu gegenläufigen Reaktionen im Baum: Der Stamm bereitet sich auf den Winterschlaf vor, aber die Blätter haben im "Altweibersommer" schon wieder Frühlingsgefühle. Ein Durcheinander, das im Indian Summer die grüne Lunge Neuenglands bunt färbt. Das Rot des Ahorn (hier gibt es 10 verschiedene Arten) wird umso leuchtender je stärker der Temperaturunterschied ausfällt, auch Feuchtigkeitsgrad und Lichtintensität (Bewölkung) tragen zum Spektrum des Farbkaleidoskops bei. In Kanada fällt die Färbung nicht ganz so bunt aus, weil dort die Vielfalt der Baumarten geringer ist (Birke, Erle, Buche & Ahorn).

 

Uns fallen in diesem Gebiet auch immer wieder Schilder auf, welche nicht nur auf Stellen zum Angeln oder Wandern hinweisen, sondern auf Ahornsirup Sammelstellen. Der Sugar Maple (Ahorn) verfärbt sich rosa-gelb-orange, andere Ahorn Sorten eher nur rot. Am Ende des Winters, wenn die Nächte noch frostig kalt sind, längerer Sonnenschein aber den Saft in den Bäumen anregt, werden die Sugar Maple zu Vorboten des Frühling. Mit Schneeschuhen geht man dann von Baum zu Baum und zapft den Saft an. Nur über 40 Jahre alte Bäume eigenen sich hierzu. Die vollen Eimerchen werden dann eingesammelt und der Saft über dem Feuer eingekocht. Kinder freuen sich über die Bonbons die entstehen, wenn der Sirup auf den Schnee fällt, schnell auskühlt und verhärtet und auch ich muss zugeben, dass ein solches Bonbon, welches ich zur Verkostung bekomme, gut schmeckt. Natürlich hat die moderne Grossproduktion (es gibt grosse Qualitätsunterschiede) nichts mehr mit diesem romantischen Bild zu tun, aber Hobby-Ahornsirup-Köche folgen der Tradition noch wie vor Jahrhunderten. 

 

In dem 15'000 km2 grossen, dichtbewaldeten Mittelgebirge (höchster Berg des Adirondack Gebirges ist nur 1500 MüM hoch) liegen über 2000 Seen und nur wenige Orte erschliessen das Naturreservat. Der bekannteste Ort ist der Skiort Lake Placid (Olympische Winterspiele 1932 und 1980) im Norden, und in dessen Nähe finden wir auf dem State Camping ein nettes Plätzchen für die Nacht. Wir freuen uns über fast zu heisse Duschen und nette Kanadische Nachbarn, welche uns am Abend noch für ein längeres Gespräch ans Feuer einladen. Die Kanadier scheinen derzeit nicht sonderlich viel von Amerika und amerikanischer Politik zu halten und sind froh, dies offen und ehrlich mit Europäern zu bereden. So lernen wir im Gegenzug aber auch einiges über Kanada, bzw. Ontario und die Grenzproblematik zwischen den beiden riesigen Nachbarländer, welche sich immer mehr zu entfremden scheinen.