Victoria - das Schmuckstück

Nach einer ruhigen Nacht beim Walmart in Port Angeles stehen wir früh auf und erwischen die erste Fähre nach Victoria. Unsere Pässe werden nur kurz angeschaut, Fragen zum Auto keine gestellt und auch einen Ausreisestempel gibt es auf amerikanischer Seite keinen. Nach einer schönen, ruhigen Überfahrt bei bestem Wetter fahren wir von der Fähre zu den Zollhäuschen. Hier werden ein paar Fragen gestellt, unter anderem von wo wir unser Auto wieder verschiffen werden, was es denn so kostet ein Auto nach Europa zu verschiffen und ob wir Waffen dabei hätten. Die Frage nach Waffen scheint eine der wichtigsten zu sein, nebst der nach Früchte und Gemüse sowie Alkohol. Das Waffengesetz ist in Kanada viel strenger als in den USA, auf frischen Früchten und Gemüse könnten böse Fruchtfliegen eingeführt werden und Alkohol ist so viel teurer in Kanada als in den USA, dass gerne mal viel zu viel eingeführt wird. Aber wir konnten alle drei Fragen mit Nein beantworten und waren wenige Minuten später in Kanada, mit Stempel, aber auch hier wieder ohne Einfuhrpapiere für unser Bobilchen - scheint als wenn das hier kein Thema ist, solange man verspricht, das Auto auch wieder auszuführen.

 

Wir parken unser Bobilchen beim Hafen und nehmen uns Zeit für eine erste Erkundung von Victoria, der schönen Provinzhauptstadt von British Colombia (BC ist eine der 13 Provinzen/Territorien Kanadas). Victoria liegt auf Vancouver Island. Auf der Insel leben rund 860'000 Menschen, davon rund 83'000 in Victoria, welches für sein angenehmes Klima das ganze Jahr über bekannt ist. Im Januar liegt die Durchschnittstemperatur bei 7°C, im Juli bei 21°C. Im Winter regnet es mehr (13.5cm) im Sommer weniger (2.5cm), jedoch massiv weniger ist als in Seattle, welches quasi ums Eck liegt. Es ist dank der stetigen Meeresbrise angenehm trocken (tiefe Luftfeuchtigkeit) und hat einen unglaublichen Durchschnitt von 2193 Sonnenstunden pro Jahr aufzuweisen (Zürich: 1544). Mit anderen Worten, eine gute Lage an der Pazifikküste mit einem einzigartigen Mikroklima.

 

1843 wurde Victoria gegründet und es wurde zu einem echten Melting Pot. Einflüsse der First Nations, der Briten, Schotten und Chinesen prägten die Entwicklung und das Stadtbild. So steht auch heute vor dem edlen Parlamentsgebäude ein Totempfahl und mehr indigene Kunst wird im Royal BC Museum ausgestellt, findet sich im Thunderbird Park und anderen Stadtpärken. Der höchste, freistehende Totempfahl der Welt steht auf dem Beacon Hill. 1778 kamen die ersten Siedler in die Bucht und 1849 (6 Jahre nach der Stadtgründung) wurde es Regierungssitz der neu gegründeten britischen Kolonie Vancouver Island. Das Parlamentsgebäude beherbergt heute die Regierung von BC. Die britische Teekultur ist hier genauso lebendig wie Highland Games, Kilt und Dudelsack - und natürlich China Town mit den engen Gassen wie im alten Shanghai. Die Stadt und Landschaft lässt sich zu Wasser zu Land und aus der Luft erkunden und wir machten einen ausgedehnten Spaziergang und genossen einen guten Lunch auf der Terrasse des "10 Acres" Restaurant. Wie wir dieses Gefühl von Terrassen Restaurants vermisst haben... und auch das Essen ist ausgesprochen gut. Wie in vielen lokalen Restaurants zelebriert auch dieses Restaurant das Motto: "eat local". Alle Zutaten kommen aus der Region (weniger als 30km Umkreis) und wenn möglich von der eigenen Farm. "eat and drink local" bzw. "locally sourced" ist ein toller Trend und so findet man auch viele innovative, nachhaltige Jungunternehmen in der Gastroszene. 13 Kleinbrauereien gibt es in Victoria, vielerorts kann man die vergorenen Getränke auch degustieren. Die Atmosphäre dieser Stadt ist äusserst angenehm, viele Cafés, Aussenterrassen und Fussgängerzonen, dazu eine schöne Hafenanlage und historische, an England erinnernde Gebäude im Zentrum.

 

Die kostenlose, stündige Führung durch das Parlamentsgebäude beeindruckt nicht nur architektonisch, sondern auch mit vielen interessanten Fakten. Der Bau des Gebäudes begann 1893 und die Eröffnung fand 1898 statt, der Architekt war damals gerade mal 25 Jahre jung. Kanada ist nach britischem Vorbild eine Parlamentarische Demokratie, Hauptstadt ist Ottawa. Ottawa bestimmt über Kanadisches Strafrecht, Aussenpolitik, Bankenwesen, Innere Sicherheit und Bürgerrecht. Die Provinzen bestimmen über Bildungssystem, Gesundheitswesen, Sozialsystem und Strassengesetzte ihrer Region. In BC gibt es viele neue Verträge mit First Nations, welche ihnen Selbstverwaltung in spezifischen Regionen zusprechen, solange sich diese nicht mit Staats- oder Provinzialrecht beissen. BC hat seinen Namen von "Britische Kolonie und Columbia River (dem Hauptfluss)". Die Provinzen haben eine gesetzgebende Kammer, der Staat zwei (House & Senate). Die Königin von Grossbritannien ist "Head of State" und der "Governor General" ihr Stellvertreter. Daher heisst öffentlicher Grund und Boden (staatlich) auch "Crown Land". Als Insignien der Krone dient der "Black Rod", welcher bei formellen Anlässen Verwendung findet, sowie der "Mace" als Symbol der Krone (ein goldener Stock). Im Innern des Black Rod (ein schwarzer Holzstock) befindet sich eine Nachricht, welche von Officials der Legislative und des Government 2012 verfasst wurde und in 60 Jahren publiziert wird. Silber und Jade Ringe um den Black Rod symbolisieren Regierungsälteste von Britischer und First Nation Abstammung und ausserdem beinhalten diese das Motto von BC, Kanada und den First Nations.

 

Mir gefällt diese Symbolik und auch den Miteinbezug der First Nations. Somit finde ich auch die weiteren Details spannend: Die Position des "Speaker" (auf Lebenszeit bzw. bis er/sie abtritt) stellt eine Art Richter dar, welcher während den Debatten sicher stellt, dass sich alle anständig Benehmen und ans Protokoll halten. Er selbst nimmt aber weder an den Debatten teil, noch ergreift er Partei. Einzig bei Pattsituationen wird er um seine Stimme gebeten. Die Rolle des Speaker hat im britischen Parlament Tradition und zwar seit 1377. Eine neue Tradition wurde 2010 mit dem "Talking Stick" begründet. Dieser Stab verbindet die First Nation Kultur offiziell mit den britischen, parlamentarischen Traditionen. Er ist eine symbolische Erinnerung daran, dass es einen respektvollen Dialog bedarf im Zusammenhang mit dem Prozess der Aussöhnung. Er wurde von Chief Robert Sam of the Songhees First Nation an Honourable Steven Point übergeben, sieht ein bisschen aus wie eine kleine Ausgabe eines Totempfahls und hat nun seinen Platz neben dem Stuhl des Speakers. Der Talking Stick wurde von den First Nations der Westküste traditionell verwendet als wichtiges Symbol für eine gute Gesprächskultur, welche Respekt und aktives Zuhören beinhaltet. Jeder Talking Stick ist individuell aus Holz geschnitzt und gibt der Person, welche ihn hält das Recht zu Sprechen während alle anderen zuhören müssen. Erst wenn der Talking Stick weitergereicht wird, kommt ein anderer der Gesprächsrunde zu Wort. Ein weiteres Symbol der indigenen Kunst und Kultur findet sich im Eingangsfoyer des Parlamentsgebäudes: ein Flusskanu. Vor über 500 Jahren wurde mit dem Schnitzen dieses Kanu begonnen, 2007 wurde es wiederentdeckt und dann während 13 Monaten von Chief Tony Hunt von den Kwa Gulth fertiggestellt. Nun steht das kunstvoll geschnitzte Kanu als Geschenk an die Menschen in BC im Parlamentsgebäude. Das Wort für das Flusskanu (Shxwtitostd) bedeutet "ein sicherer Platz einen Fluss zu queren" und soll symbolisch Brücken schlagen zwischen den Kulturen.

 

Das ganze Gebäude wimmelt nur so von Symbolik, von der BC Flagge bis zum Portrait der Queen Elizabeth II einem Buntglasfenster für das Kronjubiläum der Königin Victoria von 1897 und einer schön gestalteten und dekorierten Kuppel, welche Malereien der 4 ursprünglichen Wirtschaftszweige von BC darstellen: Holzwirtschaft, Fischerei, Bergbau und Landwirtschaft. Mittlerweile sind noch die Sparten Tourismus und IT dazugekommen, sind symbolisch jedoch nicht verewigt. Symbole der Provinz BC sind nebst der neu gestalteten Flagge von 1960 auch verschiedene Tiere, Pflanzen und der Jadestein. Die Hälfte des weltweiten Vorkommens von Jade liegt in BC. Auf der Flagge von BC sind die Wellen des Pazifik ebenso vertreten wie die schneebedeckten Berge der Rockies und die untergehende Sonne als Symbol für die westlichste aller Provinzen. Interessant war auch die Ausstellung über die Frauenrechtsbewegung anlässlich des 100 jährigen Jubiläums der 1. gewählten Abgeordneten von BC: Mary Ellensmith. Seither wurden 102 Frauen ins Amt berufen. 2016 dann auch die erste Frist Nation: Melanie Mark. Nach all diesen Informationen traten wir wieder hinaus ins Sonnenlicht der "City of Gardens" welche 50% weniger Regen abbekommt als Vancouver, welches gegenüber auf dem Festland liegt.

 

In den Gewässern rund um Victoria wohnen 3 "resident" Orca Schulen (ca. 80 Tiere) und wir hofften natürlich, während unserer Zeit hier welche zu sehen. Wie wir lernen sind Schwertwale nicht nur die schlausten und gefährlichsten Jäger der Meere (sie werden selbst den grössten und stärksten Landraubtieren, den Eisbären, gefährlich) sondern auch, dass es unterschiedliche Gruppen gibt: ortstreue (residents) und nicht ortstreue (transits) sowie weit ab der Küste lebende (offshores) Tiere. Alle Gruppen haben unterschiedliche Lebensstile und Jagt Techniken entwickelt. Obwohl sogar Angriffe auf weisse Haie (ohne jede Chance für den Hai) dokumentiert sind, wurde bisher in freier Wildbahn kein einziger Angriff auf Menschen dokumentiert. Verwandte Schulen bilden Clans von bis zu 150 Tieren, wobei sich eigene Dialekte und spezifische Beute herausbilden. Wir entscheiden uns aus Budgetgründen gegen eine organisierte Tour, setzen diese aber auf unsere "Bucket List" der Dinge, die wir in Zukunft einmal im Rahmen eines regulären Urlaubes machen möchten.

 

Für die kommenden drei Nächte checken wir in einer "Home Stay" Unterkunft ein, sprich, wir haben in einem schönen Haus in einem Vorort der Stadt ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer gemietet. Lilian, eine ausgewanderte Italienerin, ist eine äusserst nette und gastfreundliche Person und wir kommen ins Gespräch, unterhalten uns über Reiseerfahrungen, aber auch die Erfahrungen als Auswanderin. Am ersten Abend wollen wir nach einer ausgedehnten Dusche mal wieder "fein essen gehen". So fahren wir rund 40 Minuten Richtung empfohlenes Restaurant. Langsam gewöhnen wir uns daran, dass man für alle Aktivitäten hier in Amerika und Kanada ein Auto braucht, nichts liegt in fussläufiger Distanz und die öffentlichen Verkehrsmittel sind einfach viel zu spärlich gesät. Wir genossen das Essen in dem dann doch nicht so prima Restaurant, vor allem, da wir ja äusserst selten "auswärts essen" gehen. Doch wie wir losfahren wollen, stellt Markus fest, dass mal wieder eine der Scheinwerfer Lampen ausgewechselt werden muss, bisher echt der grösste Verbrauchsartikel beim Bobilchen. Doch als wir dann losfahren, scheppert auch wieder etwas am Auspuff. Peinlich und irgendwie beunruhigend, aber das schauen wir uns am nächsten Tag genauer an... Wie wir so durch die nächtliche Stadt kurven und an ein Lichtsignal fahren, macht uns ein Busfahrer ein Zeichen, winkt und bittet, die Scheibe runter zu kurbeln. Ich schaue ihn nur verlegen an und sag auf Englisch: "Ich weiss, es klappert...", komme aber nicht weiter, denn der freudestrahlende Busfahrer begrüsst uns in breitestem Berndeutsch und fragt "Seid Ihr wirklich aus Zürich?" - "Ja." - "So cool, weiterhin gute Fahrt". Es wurde grün und er winkt uns noch eine Weile nach. Wie klein die Welt ist...

 

Die kommenden zwei Tage geniessen wir die Unterkunft, machen kurze Ausflüge in die Stadt und Markus stellt fest, dass der Auspuff ok, aber eine Befestigungsschnalle gebrochen ist. Er repariert die Sache und ich schreibe an unserem Blog, weiss aber zu dem Zeitpunkt noch nicht, wie schwierig es in den kommenden 2 Monaten sein wird, einen Ort mit stabilem Netz oder auch überhaupt Zugang zum Internet zu finden, um weitere Einträge zu machen. Nachmittags besuchen wir die Fisherman's Wharf, wo wir beim "Fish Store" leckere Sashimi und frische Austern sowie eine Chowder Suppe geniessen. Super gefallen und zum Träumen angeregt haben uns die bunten Hausboote, ein ganzes Quartier von Hausbooten. Ein Spaziergang durch die Innenstadt, Besuch eines schönen Bücherladens (ach wie ich es liebe an echten Büchern zu riechen und die ersten Seiten umzublättern) und Zeit in guten Strassenkaffees runden unseren Besuch in Victoria ab. Am kommenden Tag bleiben wir in der Umgebung unserer Residenz, machen Reiseplanung und entdecken, dass hier sogar in einem Burger Restaurant das Moto "frische Zutaten, lokale Produkte und faire Preise" zu finden ist. Der frisch zubereitete Burger auf der Sonnenterrasse der "Bin 4 Burger Lounge" (Goldstream Ave 716, Langford) schmeckt wirklich gut, besser aber noch die frischen Blaubeeren, welche uns Lilian vom Bauernmarkt mitbringt. Sie ist wirklich super fürsorglich und zum Abschied bekommen wir sogar ein kleines Gastgeschenk von ihr: Kofferanhänger mit kanadischer Flagge. Nach so einem tollen Start freuen wir uns auf die kommenden Tage auf Vancouver Island, BC und Alberta.