Medellin

Es ist Palmsonntag, wir sehen in den Dörfern immer mal wieder Kinder, welche Palmwedel zur Kirche tragen, die Semana Santa hat angefangen, die Woche, in welcher in Kolumbien und den meisten anderen südamerikanischen Ländern am meisten Geld ausgegeben wird und sich jeder, der es sich leisten kann, Richtung Meer fährt. Für die knapp 300km von Salento nach Medellin brauchen wir gute 8h reine Fahrzeit, der Verkehr und die Baustellen sind zum Verrückt werden und so sehen wir auch von einem Umweg nach Jardin, einer weiteren kleinen, angeblich schönen Kolonialstadt, ab. Als wir nach Medellin hineinfahren begrüsst uns Regen und die rund 1000 Höhenmeter vom Talboden, wo sich das Stadtzentrum befindet, bis hoch auf den Kamm der umliegend Berge durchfahren wir in teilweise dichtem Nebel. Oben angekommen finden wir kurz vor dem Eindunkeln den Hostal-Camping El Bosque, direkt am Arvi Park gelegen. Dort stehen jede Menge bulliger Ami Fahrzeuge, doch wir haben nach der langen Fahrt und bei dem miesen, kalt nebligen Wetter keine Lust uns gross auszutauschen und gehen früh zu Bett.

 

Am nächsten Tag schlafen wir etwas länger, zumindest bis die Sonne den Nebel vertrieben hat und sprechen dann mit unseren Wagennachbarn, einem Paar aus Seattle in unserem Alter, welches in einem Mercedes Sprinter unterwegs ist und nicht so überheblich daherkommen wie die anderen allwissenden Ami-Fahrzeug Reisenden. Im Verlaufe des späteren Vormittags machen wir uns auf zur Busstation, von wo der unregelmässig verkehrende Bus zur Gondelstation Arvi Park fährt. Nach rund 30 Minuten Busfahrt kommen wir an der Gondelstation Parque Arvi an und steigen in die Gondel um, welche an die 6-er Gondeln in unseren Skigebieten erinnert. Der Parque Arvi ist die grüne Lunge der Stadt Medellin und ein 17km2 grosser, renaturalisierter Nebelwald. Früher hat hier die Mafia ihre Opfer entsorgt, heute versucht die Stadtverwaltung den von Beton und Müll geprägten Bewohnern Medellins etwas Umweltbewusstsein ins Herz zu verpflanzen. Die nette Gondelfahrt führt über dichten Wald, man hört Vogelstimmen und schwebt über die Baumkronen und letzten Nebelfetzen des Morgens. Dann ist die Bergflanke erreicht und der Blick wird frei auf den Moloch namens Medellin. In der Metrostation Santo Domingo ist die Stadtgrenze und der Slum von Medellin erreicht und dort steigt man um in die "Metro Cable", die Gondeln welche zum Metrosystem der Stadt gehören. Ab jetzt gleitet man mit mehreren Stopps über die Armensiedlungen, welche am Hang kleben. Die Metro Cables sind seit 2004 im Einsatz und schweben über Wellblech bedeckte Dächer mit wimmelnden Wendelgängen und verflochtenen Hinterhöfen. Ein Gewirr von übereinander gebauten Häusern, durchzogen mit Trampelpfaden, schmalen Treppen und engen Gassen. Die pralle Urbanität und Armut schlägt einem mit harter Faust ins Gesicht. In Acevedo, der Talstation, steigen wir in die Metro um und rund 2 Stunden nachdem wir den Camping verlassen haben, sind wir im Zentrum des alten Medellin, am Parque Berrio.

 

Medellin ist die zweit grösste Stadt Kolumbiens, Hauptstadt des Bezirkes Antioquia und hat fast 4 Millionen Einwohner. Die Area Metropolitana del Valle de Aburra, umfasst eigentlich zehn zusammengewachsene Ortschaften und erstreckt sich von Nord nach Süd im Aburra Tal, einem Tal des mittleren Bergzugs der Anden. Die Stadt liegt auf 1500 Metern, und wird dank des ganzjährig sonnigen und warmen Klimas "Stadt des ewigen Frühlings" genannt. In den modernen und edlen Wohngegenden blühen viele Blumen und eine Vielfalt von Orchideen, doch augenscheinlicher als die Glaspaläste mit Wächterhäuschen an den Eingangspforten im modernen Zentrum, sind die riesigen Armensiedlungen, welche sich wie ein Krebs entlang der fast 1000 Meter hohen Bergflanken ausbreiten, und der Müll der neben dem Fluss liegt, respektive in der Dreckbrühe schwimmt. In den Armenvierteln wird täglich das selbe Drama von Not und Überlebenskampf aufgeführt. Diese Quartiere zu kontrollieren ist schwer und so versucht eine neue Politik der Versöhnung seit mehreren Jahren Fuss zu fassen. Mitten im Meer von Armut werden Schulen, Bibliotheken, Parks und Begegnungszentren gebaut. 2011 wurde im Stadtviertel Comuna 13 die längste Rolltreppe der Welt eingeweiht, sie überwindet einen Höhenunterschied von 28 Stockwerken, ist Teil des Nahverkehrssystems und soll dafür sorgen, dass die Bewohner dieses Stadtteiles schneller ins Zentrum kommen. Den selben Zweck haben die Metro Cables, sie sollen den Bewohnern der armen, wildgewucherten Viertel ermöglichen, schneller zur Arbeit zu kommen und ein Stück Normalität schaffen. Bis vor kurzem noch verlief die Frontlinie bewaffneter Auseinandersetzungen durch diese Quartiere und in den 1980-ern galt Medellín als riesiger Drogensumpf und Mordhauptstadt der Welt. Es war der Sitz von Pablo Escobar, Drahtzieher des berüchtigten Medellin-Kartells. Sein Abgang 1993 wurde zum Schlüsselereignis einer Renaissance der ausgebluteten Stadt. Doch durch das Abtreten der lokalen Mafia entstand ein Machtvakuum und Guerilla Milizen lieferten sich allnächtliche Schiesserein. 2002 gewann das Militär den Krieg und obwohl noch immer brodelnd, bleibt zu hoffen, dass sich nun der gewaltfreie Trend in Medellin fortsetzt.

 

Der Name Pablo Escobar ist wohl für immer mit der Stadt Medellin verbunden, teil seiner jüngsten Geschichte. Seit den 1970er Jahren explodierte die Nachfrage nach Kokain in den USA und intelligente Gangster in Kolumbien formierten ein Produktions-, Handels- und Transfernetztwerk, das Medellin Kartell. Die Gesamteinnahmen von jährlich mehreren Milliarden USD machten den ehemaligen Kleingauner und Verkäufer geschmuggelter Marlboro Zigaretten namens Pablo Escobar innerhalb eines Jahrzehnts zu einem der einflussreichsten, reichsten und zugleich gefährlichsten Männern der Welt. Der 1.68m kleine Mann mit Napolion Syndrom hatte zeitweilig sogar einen Sitz im Abgeordnetenhaus Kolumbiens inne und 1989 wurde sein Privatvermögen bereits auf 2.7 Milliarden USD geschätzt. "Gut leben, solange man lebt" war sein Motto, aber auch "lieber ein Grab in Kolumbien, als im Gefängnis in den USA". Schizophrenie auf Höchstebene, Robin Hood für die einen, aber auch Massenmörder und kaltblütiger Drahtzieher eines der grössten Verbrecherkartelle des 20. Jahrhunderts. Einerseits verdiente er sein Geld mit Drogengeschäften, andererseits hat er seiner Familie das Motto "Mutig der Mann, der keine Drogen nimmt" verinnerlicht. Einerseits baut er den Überluxus Hacienda Napoles, ein riesiges Gelände mit Luxusvilla und eigenem Zoo, andererseits kommt er immer wieder in die Armensiedlungen seiner Jugend zurück und findet dort auch Unterschlupf. Noch heute wird er von Bewohnern einiger Siedlungen in Medellin verehrt, denn für die Armen hatte er immer Geld. Wie von Königs Gnaden empfingen sie von ihm Gaben. Er finanzierte Schulen, Spitäler und baute ganze Siedlungen mit möblierten Wohnungen, die er dann den Bewohnern kostenfrei überliess. Er hatte ein Ohr für die kleinen Anliegen, sprang ein, wo der Staat versagte und zückte Geld für die Spitalkosten der Mutter eines Angestellten, wenn dies benötigt wurde und sorgte liebevoll für seine Familie. Er liebte seine Frau, war ihr aber notorisch untreu, Hass und Liebe waren elementar und ins Extreme verzerrt. Er machte die Politiker und den US-Imperialismus für die Misere Lateinamerikas verantwortlich und sein Hass richtete sich offen gegen den Staat. Kaltblütig und brutal lässt er alles und jeden aus dem Weg schaffen, der ihm oder seinen Geschäften in die Quere kam. Grössenwahn und Genie gepaart mit einer prächtigen Portion Schizophrenie - ein grossartiges Studienobjekt für jeden Psychoanalytiker und gleichzeitig müssen die speziellen Gegebenheiten hinterleuchtet werden, die seinen kometenhaften Aufstieg erst ermöglicht haben. Kolumbien war ein schwacher und korrupter Staat, eines von den USA am stärksten abhängigen Ländern Südamerikas. Am 2. Dezember 1993 war er der Gewalt überdrüssig und in die Enge getrieben. Bewusst führte er ein langes Gespräch mit seiner Familie (welches geortet wurde) und richtete sich danach selbst. Kurze Zeit darauf stürmten die Paramilitär, welche auf ihn angesetzt waren, das Versteck. Sein Sohn (wie auch Escobars Frau und Tochter) lebt heute mit neuer Identität als Architekt in Argentinien und hat sich ein gutbürgerliches, gewaltfreies Leben aufgebaut. Dieser Sohn meldete sich aber zu Wort, als die grossen TV Serien anfingen die Geschichte seines Vaters verzerrt darzustellen und er schockiert feststellen musste, dass viele Jugendliche grad wegen dieser TV Serien Bewunderung für seinen Vater entwickelten. Er hat ein Buch geschrieben und sich für einen Dokumentarfilm "die Sünden meines Vaters" mit den Söhnen des von seinem Vater ermordeten Politikern getroffen. Sein Anliegen ist die Versöhnung und Entmystifizierung seines Vaters. Die FAZ hat ein interessantes Interview veröffentlicht: Artikel.

 

Wer länger in Medellin bleiben will, dem sei ein Besuch des Botanischen Garten oder je nach Geschmack eines Museums empfohlen. Wir haben die Gegend um den Parque Berrio erkundet, doch was wir von Medellin gesehen haben, hat uns definitiv nicht gefallen, eine Grossstadt ohne Charme, dafür mit vielen Menschen, merkwürdigen Gestallten und riesigen Gegensätzen zwischen Reich und Arm. Neben der Iglesia de la Candelaria an der Ostflanke des Parque Berrito, der einst das Zentrum des alten Medellin war, finden sich die merkwürdig fetten Skulpturen des Künstlers Fernando Boteros und in der Catedral Metropolitana, finden wir ein wenig Ruhe von der Hektik der Stadt. Nach einem Mittagessen am Rande des Parque de Bolivar entscheiden wir uns nicht den Santa Elena Bus zurück zum Camping zu nehmen, sondern wieder mit den Gondeln zu fahren. Kaum aus der letzten Gondel ausgestiegen, begann es wieder zu regnen und während der ganzen Busfahrt und am Abend hörte es auch nicht mehr auf. Anne und Bob kamen etwas nach Sonnenuntergang völlig erschöpft im Camp an. Wir begrüssten uns herzlich, tranken noch eine Tasse Tee am verloschenen Kaminfeuer (das sich auch partout nicht mehr entfachen liess) und verzogen uns alsbald in unsere Wagen. Am kommenden Morgen wollen wir Richtung Guatapé, dem Rückzugsort der reicheren Bewohner Medellíns und trotz nur rund 30km Entfernung von der Grossstadt, eine völlig andere Welt.