Endlich Rentiere

Nach der rund 4km langen Überfahrt auf die andere Seeseite, ging es über mit Bohlenplanken versehene Moore, welche reich an Moltebeeren sind. Moltebeeren sind unglaublich beliebt im Norden, und man darf sie auch pflücken. Interessanterweise sind sie rot noch etwas unreif und erst wenn sie gelb werden, entwickeln sie den unverwechselbaren süsslichen Geschmack. Leider schienen auch hier die Beeren den schlechten Sommer zu spüren und waren noch nicht so wirklich reif. Es begann auch wieder zu regnen und wir kraxelten im Poncho über die auf rund 750m liegende Baumgrenze hoch und auf eine Fjällheide, wo der Nieselregen dann langsam nachliess. So konnten wir dort unbehelligt von Moskittos auf einem Stein Platz nehmen und den überraschend vielen Rentieren zuschauen, verschieden alte Kälber tummelten sich zwischen erwachsenen Tieren und dazwischen sogar Albinos. Je südlicher wir kamen, umso mehr Rentierherden trafen wir.

 

Viele der Rentiere trugen Halsbänder, offensichtlich die Leittiere. Wie wir später erfuhren, sind viele dieser Halsbänder mit Sender ausgestattet, auch hier hat die Moderne Einzug gehalten, und mit diesen Sendern ist es für die Sami, den Ureinwohnern des nördlichen Skandinaviens und Teilen Russlands, einfacher ihre Herden in der unendlichen Weite wieder zu finden. Einmal im Sommer wird die Herde, die sich weit verstreut hat, zusammengetrieben, damit die Kälber am Ohr markiert werden können. Jeder Renbesitzer hat sein gesetzlich geschütztes Zeichen, eine Kombination von Schnitten, womit er sich sein Eigentum sichert. In Schweden sind 10 000 verschiedene Renzeichen registriert. Nach der Herbstwanderung, bevor die Tiere auf die Winterweide getrieben werden, findet die Rentierscheidung statt, bei der die Tiere auf ihre Besitzer verteilt und etwa ein Fünftel bis ein Drittel der Herde zum Schlachten ausgesondert wird (meist einjährige Stiere - Nahrung und Kapital der Sami). Die Tiere werden in Pferche getrieben; in wilder Jagd galoppieren sie darin herum. Mit treffsicherem Auge vermag der Besitzer im rasenden Gewoge seine Tiere am Ohrzeichen zu erkennen und wirft dann das Lasso nach ihnen.

Heute hat fast jede Familie am Winterplatz ein kleines Haus und meist auch am Sommerplatz eine stabile Hütte. Das Zelt (die Kote) verschwindet mehr und mehr. Auch die malerische Rajd, die locker aneinandergekoppelte Reihe von Rentierschlitten, die Menschen und Hausrat von einem Platz zum andern bringt, hat Konkurrenz erhalten durch den Jeep und den Lastwagen. Und wenn früher die Rentierhirten auf Skiern sich zu ihren Herden begaben, so tun sie das heute mit dem Motorschlitten oder mit dem Geländemotorrad. Sogar der Helikopter wird eingesetzt, um die Herden zusammenzutreiben. Lärm und Gestank Jagt den Rentieren Angst ein und macht sie wild. Menschen lassen sie gerne in ihre Nähe, Motoren weniger. Die Mechanisierung und Technisierung der Rentierhaltung hat aber noch eine andere Schattenseite: Sie führt zu erheblicher Kostensteigerung und damit zwangsläufig zu grösserer Abhängigkeit von der Industriegesellschaft. Die Selbstversorgerkultur wird eine bargeldabhängige Züchterkultur. Das hat langfristig politische Konsequenzen, denn je mehr die Rentierhaltung zu einem integralen Teil der skandinavischen Volkswirtschaft wird, desto stärker wird der Druck, profitorientiert zu wirtschaften und den ökologischen Lebenswert hintanzustellen.

Für unsereins ist Lappland mit dem Bild von Rentier, Rentierschlitten, Rentierherden und mit dem Nomadenleben im Zelt verbunden. Das Staunen ist gross, wenn man zur Kenntnis nehmen muss, dass bloss 10% der Sami von Rentierhaltung leben, also eine kleine Minderheit innerhalb der Minderheit. Zahlenmässig sind weit mehr Sami in der Fischerei oder in der Landwirtschaft beschäftigt und in zahlreichen anderen Berufen. Dennoch ist das Rentier für die Kultur und Tradition der Sami zentral. Der Staat trägt dem Rechnung: in Norwegen und Schweden ist die Rentierhaltung nur den Sami erlaubt. Leider ist ihnen auch der Abschuss von Wölfen erlaubt, um ihre Herden zu schützen, doch dies führt dazu, dass die Wölfe nicht mehr frei zwischen z.B. Südschweden und Russland migrieren können. Dadurch nimmt der Genpool der Wölfe in Südschweden stark ab und obwohl dort viel mehr Wölfe leben als in Nordschweden, ist das genetische Risiko von Erbkrankheiten daher erheblich geworden, was den Bestand der Wölfe in Schweden auf lange Sicht hinaus gefährdet.

Ursprünglich lebten die Sami als Jäger, Fischer und Beerensammler. Pelze wurden bei den skandinavischen Nachbarn (Nachfahren der Wikinger/Nordmänner) gegen Lebensmittel und Stoffe getauscht. Wenige gezähmte Rentiere hielten sie sich als Last- und Zugtiere und als Locktiere für die Jagd wilder Rentiere. Gleichberechtigung der Frau ist bei den Sami uralte Tradition. Frauen waren stimmberechtigt, Männer zogen bei der Heirat zur Familie der Braut, Kinder können auch den Familiennamen der Mutter tragen. Frauen besitzen noch heute ihre eigenen Rentiere, schon von Kindheit an. Das gibt der Frau ökonomische Unabhängigkeit. Frauen haben auch ihr eigenes Ren-Markierungszeichen.

 

Gegen 15 Uhr trafen wir bei den Aktse Hütten ein und wie hätte man es auch anders erwarten dürfen, kurz nachdem wir das Zelt aufgestellt hatten, begann es wieder zu regnen. Bei dem Wetter sinken die Chancen, weitere Wildtiere zu sehen, z.B. Bären (welche entgegen ihren kanadischen Verwandten Abstand zum Menschen halten), Vielfrass, Lemminge oder Adler. Da verzieht sich doch alles und alle, auch die Ultra-Light-Kanadierin, welche wir hier wieder antrafen, meinte, sie sei nicht auf den berühmten Skierffe hochgegangen, denn im Nieselregen/Nebelsuppen Gemisch kann man nix sehen vom beeindruckenden Delta des Laitaure, dem Mosaik aus Wasser und Land, welches bei Sonnenschein durch ein grossartiges Farbenspiel beeindruckt. So begnügten wir uns alle mit dem Blick in den Reiseführer und die darin abgebildeten Fotos, während wir in der Gemeinschaftsküche einen warmen Tee tranken. Umso mehr hingegen freuten wir uns auf den Saunagang, denn seit kurzem gibt es in den Aktse Hütten auch eine neue Sauna, mit Heisswasserbehälter am Steinofen und einem Vorraum, in welchem man entweder mit dem kalten Wasser des Baches duschen konnte, oder das heisse Wasser der Sauna in Behältern mit dem kalten Wasser mischen und sich so waschen konnte. Herrlich bei dem Wetter!

 

Die meisten der Hütten (stugor), welche sich auf den beliebtesten Abschnitten des Kungsleden befinden, werden vom STF betrieben. Die Hütten erhöhen bei schlechtem Wetter die Sicherheit (und den Komfort) der Wanderer, ausserdem gibt es auch noch mehrere kleine Windschutzhüttchen entlang des Weges. Diese bieten bei Regen ein Dach über dem Kopf und manchmal sogar einen kleinen Holzofen zum Einheizen. Die STF Hütten sind nicht mit unseren SAC Hütten zu vergleichen, nicht nur, weil man hier im Zelt schlafen kann, sondern auch, weil man dazu angehalten wird, mitzuarbeiten und man sich selbst verpflegt (kein gemeinsames Hüttenessen). Der Hüttenwart hat einfach die Oberaufsicht und zieht die Nutzungsgebühren (die dementsprechend auch viel preiswerter sind als in einer SAC Hütte) ein. Der Standard in den Hütten ist einfach, es gibt keinen Strom, dafür Etagenbetten in Mehrbettzimmern (ohne Bettwäsche, aber mit Matratze, welche man manchmal lieber abdecken sollte) und irgendwo ein Plumpsklo. In den Hütten wird mit Holz geheizt und mit Gas gekocht. Bisweilen gibt es eine einfache Sauna, einen kleinen Proviantshop oder einen Trockenraum. Die Wanderer müssen selbst Holz sägen und hacken, Trinkwasser holen und putzen. Wasser holt man mit Eimern aus einem Gewässer vor der Hütte und genutztes Wasser (in speziell gekennzeichneten Eimern) wird an einer speziell markierten Stelle auf dem Gelände wieder abgegossen.